von und mit / with and by

Josep Caballero García * Angela Guerreiro * Arianne Hoffmann * Jochen Roller * Vania Rovisco * Robert Steijn * Irmela Kästner * Jules Buchholtz * Tina Ruisinger
Foto: Tina Ruisinger


Mittwoch, 23. Dezember 2015

An Artist Series Portraits

zur Erinnerung an das Werkstatt- und Performanceprojekt The Best. The Worst. My Everything! vom vergangenen Mai: 

In diesem Rahmen entstanden diese Portraits und Interviews der sechs beteiligten Choreografen, die soeben fertig gestellt worden sind. Die Audiospuren sind unter den Bildern verlinkt. 


Robert Steijn
Interview Robert Steijn

Josep Caballero Garcia
Interview Josep Caballero Garcia

Vania Rovisco
Interview Vania Rovisco

Arianne Hoffmann
Interview Arianne Hoffmann

Jochen Roller
Interview Jochen Roller

Angela Guerreiro
Interview Angela Guerreiro

Mittwoch, 23. September 2015

kritik der kritik



In Hamburg versammelten sich Choreografen, Tänzer, Theoretiker, um über eine Disziplin zu verhandeln, die in die Defensive geraten ist: Wie viel kritische Spiegelung ist überhaupt noch machbar oder auch nur erwünscht? 





kritik der kritik_____________
In Hamburg versammelten sich Choreografen, Tänzer, Theoretiker, um über eine Disziplin zu verhandeln, die in die Defensive geraten ist: Wie viel kritische Spiegelung ist überhaupt noch machbar oder auch nur erwünscht?
________Von Gabriele Wittmann 

«Ich lebe in einem sterbenden Europa», schimpft die Choreografin Angela Guerreiro. «Keine Jobs. Schleichende Armut. Länder, die ihre Idee von Unabhängigkeit aufgeben.» Aus der Tiefe des Bühnenraums kommt Robert Steijn und zieht sich aus. Legt sich auf den Boden. Und schläft. Totale Entspannung. Kein Stress. «Keine Spur davon, dass ich jemanden überzeugen müsste», sagt er später. Der ehe- malige Tanzkritiker und Dramaturg schläft in vielen seiner Installationen vor Zuschauern. Das ist sein Beitrag zum Thema Kritik.
Probenbesuch bei «The Best. The Worst. My Everything»: Im choreografischen Zentrum K3 auf dem Hamburger Kampnagel-Gelände hat die Autorin und Tanzkritikerin (und regel- mäßige «tanz»-Beiträgerin, A. d. Red.) Irmela Kästner sechs Choreografen dazu aufgerufen, künstlerische Statements zum Thema «Kritik» zu geben. Und sich dabei nicht irritieren zu
lassen: nicht als Schwarm zu verschmelzen wie so oft im Tanz, sondern bei der Rolle zu blei- ben, die sie vorbereitet und mitgebracht ha- ben. Eine Bühne also voller Einzelkämpfer, die eine kritische Haltung einnehmen und zu ihrer Sache stehen. Was ist ihnen wirklich wichtig? Was wollen sie tun? Und wie? 


Brennendes Interesse 

Wie sollen Künstler, wie sollen wir das «Ein und Alles» überhaupt noch stemmen? Geschweige denn: zeigen – in einer Gesellschaft, die zu- nehmend autistisch und konkurrenzbildend wirkt? Wir ziehen der Jobmaschine hinterher und arrangieren uns mit den Gegebenheiten, so gut es eben geht. Was wagen wir in die- ser Atmosphäre einer Industrie 4.0? Ist Kritik überhaupt noch möglich? Wird sie gehört?
Und umgekehrt: Ist Kritik, ist kritische Haltung in der Kunst selbst nicht längst inflationär?
Wer im zeitgenössischen Tanz etwas auf sich hält, pflegt die Nähe dazu. Die einen nach wie vor – oder wieder – zur kritischen Theorie, die anderen zu einer kritischen Praxis, auch wenn sie sich nicht immer von Foucault her- leitet. Doch wie ist es um diese Praxis unter Künstlern bestellt? Eine ganze Generation hielt sie hoch in Zeiten des Konzepttanzes. Damals, in den 1990er-Jahren, lautete die Devise noch: «Wir kommen aus dem gesell- schaftlichen System nicht heraus, das haben wir begriffen. Also drehen wir die Sache um und nutzen das System für unsere Belange. Oder führen es vor.» Was ist davon übrig geblieben?
Öffnen oder Schließen
Inzwischen könnte man dekonstruierend fest- stellen, dass das Wort «Kritik» heute so häufig vorkommt, dass es auf einen Mangel hindeu- tet. Auf welchen? Ist Kritik vielleicht gar nicht 

praxis 

gemeint, geschweige denn: entwickelt und produktiv entfaltet? Der Prozess der Kritik be- deutet immerhin Tag für Tag praktische Arbeit. Ein konstruktives Handeln, genährt durch Zuwendung und Verantwortung. Weshalb die Choreografin Vania Rovisco sich dem Begriff über Brian Massumi nähert und seinen Ansatz einer «affirmativen Kritik» als ei- ner dynamischen Evaluation, die konkret aus einer Situation geschöpft und in ihr gelebt wird. Eine Haltung, die Anna Halprin (tanz 7/15) schon in den 1970er-Jahren mit ihrer Wortschöpfung «valueact» aufbrachte: die Aktion des gemeinsamen «Wert-Gebens» durch eine Gruppe. Es braucht dafür den ge- meinsam gestalteten Raum, in den alle mit un- terschiedlichen Informationen eintreten
können. Heutzutage sind diese Informationen extrem unterschiedlich. Denn, so Rovisco: «Die Kunsthochschule, von der du kommst, bestimmt deinen Diskurs. Kritik ist nur mög- lich auf der Basis dieses erlernten Diskurses.»
Das war nicht immer so. Im Portugal der 1980er-Jahre etwa blühte der Austausch zwischen Künstlern und Kritikern. Es war der Beginn einer neuen Ära im Tanz. Und die Kritik fragte ratlos: Um was geht es jetzt? Was ist überhaupt ein Körper auf der Bühne? Es wurde gemeinsam gerungen. «Wann im- mer in den Künsten etwas passiert ist: Es geschah, weil sich etwas öffnete zwischen dem, was getan, und dem, was geschrieben wurde», bilanziert Rovisco. Ähnlich wie in den
1970er- Jahren in New York, als Tanzautoren mit den Künstlern die Karriere und bisweilen auch die Wohnung teilten. Man ging gemein- sam zu Premieren, Vernissagen, Konzerten. «Die künstlerische und die kulturelle Debatte waren nicht so getrennt wie heute», überlegt Rovisco, «denn ich empfinde die Kritik als nicht mehr so vibrierend. Es ist oft nur noch: Daumen hoch oder runter. Es erzählt nicht mehr von einem Denkprozess.»
Zirkelschluss
Auf der Probe in K3 schichten sich die Diskurse der Performer ineinander. Angela Guerreiro schreit sich die Galle aus dem Leib im politischen Kampf gegen einen neo- kolonialen Organhandel: «Wenn wir alles  

__________________Die Kunsthochschule, von der du kommst, bestimmt deinen Diskurs. Kritik ist nur möglich auf der Basis dieses erlernten Diskurses (Vania Rovisco)__________________


billiger machen, wo endet das?» Stumm blickt Jochen Roller vom Rednerpult oder rezitiert einen historischen Text über den grandiosen, künftig geforderten «Arbeiter-Tänzer» – als Schimpftirade; er zerkaut die Wörter, bis die Buchstaben quietschen und wehtun.
Was dazwischen entsteht, sind Fragen im Kopf des Zuschauers: Kann ein ungebroche- nes Einstehen für eine Sache ästhetisch über- haupt noch – oder wieder – bestehen? Hat Jochen Roller nicht recht, gerade diese Position zu zerlegen? Andererseits: Was bleibt nach dieser Kritik? Und was unterschei- det diese Art Bühnen-Experiment von den Montage-Ideen eines Bertolt Brecht, einer Pina Bausch – wonach jeder Zuschauer das Geschehen im eigenen Kopf kritisch verhan- deln muss? Sind wir als Gesellschaft weiterge- kommen mit diesem Thema? 


Kritik als Mode 

Ist unser Wort-Zirkus im Gefolge der Dekonstruktion inzwischen bloße Masche? Die Mode einer selbstbezüglichen, dann doch hinterrücks kolonialen Gesellschaft, die dem Wort huldigt und ihm das Regiment zuspricht? «Als das Tanzquartier Wien gegründet wurde, da gab es in der Szene noch diesen Hunger nach Kritik und Theorie. Das war für uns damals eine Notwendigkeit», berichtet Robert Steijn als Ältester unter den Performern. «Aber wo- für heute all diese Worte? Inzwischen erreicht mich diese Theorie nicht mehr.» Er lächelt.
Vania Rovisco gibt als ihre Lieblingsrolle den Fool. Den, der alles sagen darf. Der offene Mund ist überschminkt, die Schenkel stecken in platzender Strumpfhose – so schreit sie, tonlos. Ulkig schnellt ihr verdrehter Körper zurück, die Augen glotzen weit voraus: «Hi», sagt sie mit lachendem Blick. Und dreht sich zum Publikum. Das natürlich nicht antwor- tet. «I think I’m in the void», resümiert sie schließlich. «Everybody talks about it. Don’t go into the void.» Kein Lacher. Treffer. Die Anwesenden als nicht reagierendes Vakuum? Robert Steijn legt sich wortlos schlafend ne- ben sie wie ein tröstender Hund. 


Raub der Kritik 

Sind wir noch da? Ist überhaupt noch jemand «zu Hause», im Alltag, im Theater? Oder im Journalismus – jenseits der PR? Die Kritik ver- sickert. In den gängigen Medien ist ihr Raum von Jahr zu Jahr geschrumpft worden. Dabei halfen auch Lobby-Vorstöße aus Wirtschaft und Politik. Etwa die der Bertelsmann Stiftung. Sie hat inzwischen an mehreren Wirtschaftsfronten assistiert, zuletzt beim Durchkalkulieren des Gesundheitssektors. In den 1990er-Jahren zielte Bertelsmann noch auf die Branche des Kulturjournalismus – mit «Einladungen» zu Fortbildungsseminaren, die versprachen, das Feuilleton der Zukunft vor- herzusagen und die Teilnehmer dafür fit zu ma- chen. Wer dabei war, erzählte bald auf Podien (etwa im Hamburger Kunstverein) begeistert vom Befund, dass Leser im Allgemeinen nur kurze Texte lesen und außerdem als Ressorts angeblich nur Popmusik und Film schätzen, nicht aber die performativen Künste. Ist das Theater, dem in Deutschland noch eine be- sonders engagiert-kritische Rolle zukommt, also «out» bei den Lesern? Oder wurde da- mals nur versucht, eine von der aufkommen- den Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft diagnostizierte «linke Hegemonie» in den deutschen Medien zu brechen? 


Zunft der Zukunft 

Was also tun, statt durch Klagen zu ermüden? Am Ende sind es immer Menschen, die für den Lauf der Geschichte entscheidend sind. Und jeder Einzelne zählt. Etwa der derzeitige Ressortleiter beim «Hamburger Abendblatt», der den Theaterkünsten gegenüber aufge- schlossen ist. Was dazu führt, dass auch der zeitgenössische Tanz seinen Platz bekommt: «Alle drei Produktionen von K3 im Hamburger Abendblatt besprochen zu bekommen, das war wie Weihnachten», freute sich die Leiterin des choreografischen Zentrums, Kerstin Evert. Und auch bei der «Welt» ist es ein Redakteur, der die Plätze für den Tanz jahrelang tapfer gegenüber seinen Vorgesetzten verteidigt hat, berichtet Irmela Kästner. Also doch nicht das Ende des Engagements, des Einstehens für etwas?
Kritik üben als Journalist: Wer braucht, wer will das noch? Wer will einen solchen Spiegel in Zeiten des konsumistischen Primats? Da sind sich dann doch alle überraschend einig: Die Künstler, die Veranstalter und auch die Tanzkritiker, die im Rahmen des Experiments «The Best. The Worst. My Everything» zu ei- ner Talkrunde geladen waren – alle schätzen eine gute, metiersichere Kritik. Und alle de- finieren sie erstaunlich traditionell: Sie wün- schen sich eine umsichtige, aber entschieden wertende Kritik – damit die Künstler sich da- ran reiben können. Eine Kritik, die hilft, die eigene Arbeit einzuordnen. Eine, die aus dis- tanzierter Position geschrieben ist – aber mit Sachkenntnis und Herzenswärme. Lediglich der Dialog mit der Wissenschaft, der könnte noch stärker werden – damit beispielsweise die angebliche «Flüchtigkeit» des Tanzes nicht mehr durch die Redaktionsflure geistert. 


Vom Träumen 

Robert Steijn aber schläft. Und das entschie- den. Braucht Kritik volles Bewusstsein? «Mein Ansatz ist nun mal geprägt vom ‹deep lis- tening› von Pauline Oliveros», erklärt er. «Da hörst du nicht den Worten zu, sondern dem, was sie energetisch mit den beteiligten Personen machen. Es geht nicht um etwas Objektives, sondern um etwas Energetisches.»
Was ist dieses Schlafen auf der Bühne? Es ist keine reaktionäre Ausflucht. Es ist sorgfältig eingefädelt. Und wirkt stimmig. Und energe- tisch so stark, dass es enorme Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es ist eine sich Raum neh- mende, eine sich im Körper der Zeugen ein- nistende Seinsweise, bei der die wortge- wandte Kritik an ihre Grenzen stößt. Am Ende berichtet der Schlafexperte noch von einer Geschichte, die Jochen Roller auf den Proben erzählte. Der Choreograf sei während seiner Recherchen bei indigenen Volksgruppen auf eine getroffen, die sich Widerworte nicht im Wachzustand gebe. Stattdessen lege man sich miteinander hin. Wie sähe eine Kritik aus, die aus dem Zustand des Wachträumens – miteinander – entsteht?


Artikel von Gabriele Wittmann  
in Tanz, August-September 2015

Sonntag, 31. Mai 2015

love your own art

"Ein Abend voller Wut und Zartheit, über Vereinzelung und Solidaritätsversuche. Vor allem eine bewegende Lehrstunde über verzweifelte, unbedingte, bedingungslose Liebe zur eigenen Kunst."

Hamburger Abendblatt vom 16.05. 2015 




zum Artikel

Freitag, 15. Mai 2015

Continue to differ

"The idea is not at all that everyone will arrive at the same
conclusions, or even to “agree to differ.” If successful, the enabling constraints
have placed the coming event on an entirely different plane than that of debate
or discussion. Rather, the hope is that the ways in which we differ will pass
together through the generative filter of the enabling frame—that we will
continue to differ—all the more so—but together, for the moment at least, in
creatively “impolite” but not disqualificatory ways. The hope is that together we
can invent new modes of academic and artistic encounter that don’t endlessly
reproduce the same critical debate model, and that those new ways might
contribute, in some small way, to a change in the culture of intellectual and
artistic “exchange.”

Brian Massumi 

the ending of a beginning